Aus dem Gedichtband "Aus deinem Auge schlüpft der Kuckuck" von Sergej Tenjatnikow
mit dem Nachwort von Waldemar Weber und den Grafiken von Andrey Vrady, Lychatz Verlag 2017, ISBN 978-3-942929-46-2

 

Erschließung des Raumes

in einer neuen Stadt sich niedergelassen
verteilt man Gegenstände an ihre Plätze
Autos Straßenlaternen Häuser Nachbarn
Himmel Flugzeuge
den Raum ausgefüllt
findet man keinen Platz für sich selbst
und zieht um


Alexandria                      

Luft füllt alles gleichermaßen,
den Schlund eines Feldherren als auch  
das Herz eines Chronisten.
wohin man auch schaut, kommen 
Architekturdenkmäler zum Vorschein 
wie Fossilien der armen Epochen.
was zählt aber schon die Antike,
wenn ein Panzer keine Sehenswürdigkeit mehr ist, 
sondern ein Verkehrsmittel.
die Nacht bricht ein, du siehst Dinge,
von denen man tagsüber nicht träumen kann – entweder
schrumpft der Wortschatz mit zunehmendem Alter 
oder Götter entziehen, in der Tat, still den Verstand.
wenn wir Retro werden, werden,
aller Wahrscheinlichkeit nach,
sogar Kinder über unsere Drogen lachen, 
denn jede Sache hat nicht so viel eine zweite Seite 
wie Folgen.
was brennt da an der Ostküste...
der Leuchtturm von Alexandria oder vielleicht
die Bibliothek.


Durch das Windmühlenland zieht sich der Zug

durch das Windmühlenland zieht sich
der Zug wie Hopfen zur Sonne
und rankt sich an Ziegeln der Weizenfelder,
wo ein Rülpser wie das Wort „Freiheit“ klingt.
das Gestern gerät in Vergessenheit wie
eine Landmine nach dem Krieg.
Menschen kommen an
mit Nachrichten (die heißesten fahren
am schnellsten weg).
die Horizontkurve beschreibt
den Buchstaben W. Mädchen füttert
den Hund mit einer Apfelsine.
zuerst wird der Wald dunkel, nach und nach
das Feld, zum Schluss der Himmel.
alles wird schwarz. es bleibt nichts übrig
im Fenster außer dem eigenen Spiegelbild,
an welches man übrigens nur schwer glauben kann.


Die Eiche

die Eiche steht im Wald wie ein Haus,
wie ein Tisch, wie ein Sarg.
sie ist weder lebendig noch tot.
die Eiche gleicht einem Abendkleid.
die Jahreszeiten probieren sie an.
ihre Ohren sind taub,
ihre Lippen – verkrustet.
die Eiche wuchs mit dem Kopf in die Erde hinein
hunderte Jahre tief.
die Eiche ist kahl, entblößt,
kinderlos.
sie ist kein Baum mehr und doch kein Tier.
die Eiche steht wie hundert Türen.
sie gräbt sich in die Erde immer tiefer ein,
um ihr näher zu sein,
um mit ihr Eins zu werden,
ein Ganzes, ein Ewiges.
sie gräbt sich in die Erde tiefer und tiefer,
damit sie ihr Licht
noch tausend Jahre sehen kann,  
damit die Vögel sie nicht auszureißen
und aus dem Wald
zu tragen vermögen,
dahin, von wo es kein Entkommen gibt.


Die Wüste

das Kind weint, der Stern strahlt.
der Henker schleift, der Wind treibt.
die Hirten hüten, die Weisen wandern.
leer ist die Landschaft, das Kamel spuckt.
die Gegend schläft, der Vater schweigt.
(Pilatus, der Wölfin Abkömmling, zieht in den Krieg.)
auf dem Boden Staub, Tränen auf der Erde.
die Mutter in Schweiß: der Name ist Jeschua.


Buena Vista

die hochbetagte karibische Dame,
am linken Bein den Strumpf heruntergerollt,
so dass es scheint als würde sie hinken,
geht die Gaslaternen entlang,
setzt sich auf den Stuhlrand,
raucht an und schweigt.
und bloß die Krümmung des Himmels
lastet auf ihren sonnengebräunten Schultern.
die hochbetagte karibische Dame
raucht als ob sie auf Raten küsst.
der grauhaarige Gitarrist biegt exzessiv sein Handgelenk;
er ist heute betrunken wie nur Gott betrunken sein könnte.
der Gitarrist schleppt die Dame ab
wie üblich am Happy End.
die Kamera zoomt auf ein Schälchen
Zigarettenstummel, markiert mit rotem Lippenstift.


Mitternacht

ein Zug strebt wie eine Eins gegen Null
und streicht das Feld durch.
würde der Zug zu einem Geschoß geschmolzen,
würde er, einer verrückten Flugbahn folgend,
jedes beliebige Land, sei es ein ganzer Kontinent
oder eine Affeninsel, wie eine Stirn durchbohren.
aber am Anfang seiner Reise dehnt sich
der Zug zu einer Schlange aus,
kriecht von Nest zu Nest, schluckt
wie Eier eine Stadt nach der anderen,
gewinnt langsam an Fahrt.
gewissermaßen schreibt jeder Zug
seinen eigenen Roman.
und wenn das lyrische Ich ein Tut-Tut hört,
bleibt Es panisch am Fenster kleben –
in der Angst, dass seine Reise
in irgendeinem Loch endet,
wo die Gleise zu Spiralen gewickelt sind.
so bewegt sich der Zug vom Berg
zum Meer über das Flachland,
füllt mit sich selbst die Leere,
raubt dem Raum die Zeit,
teilt die Welt in diese Seite und jene.
das lyrische Ich strengt den Blick an,
schaut in heranrollende Dunkelheit.
am Fenster kratzen die Krallen des Regens.
der Zugführer, einen Stern von der Schulter gestreift,
sagt an: nächster Halt – Mitternacht.


Die Katze

„Und wie viele Leben hast du?“,
fragte die Katze und
sprang aus dem Fenster.


Sprache der Zeit

Geister wandern in Europa...
ich sitze in meiner fremden Wohnung;
die Tomaten liegen auf dem Teller in feierlichem Dill
als ob sie ein Killer niedergemetzelt hat.
ich träume immer davon, dass ich träume,
dass der tote Dante cooler wäre als der Duce.
so oft man aber für die Sonne auch stimmt,
dennoch klettern die Wolken zum Himmel.
(die Zigarette qualmt wie ein Lötkolben
und brennt langsam den Hals des Saxophons durch.)
Hitler wandert durch Europa – feuerfest wie ein Tresor.
im Atelier – höher als die Wolken
und höher als die Sonne – erschafft der greise Künstler.
und der überflüssige Dante fühlt sich
wie ausgeliefert der Lynchjustiz im Stadion,
wo die Fans der Glasgow Rangers nach dem Spiel

auf Revanche warten.



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