Interview in Leipzigs Neue (9 / 2014)

„Für mich steht der Mensch im Mittelpunkt.“

Der Leipziger Autor Sergej Tenjatnikow im Gespräch.

Du hast in Lüttich gerade einen Preis bekommen?

Das war ein Weltpoesiefestival, auf dem russischsprachige Dichter aus Russland aber aus den USA, Deutschland oder Israel zusammenkamen. Zunächst gab es einen online-Wettbewerb. Man musste Texte einschicken, anhand derer Finalisten ausgesucht und eingeladen wurden.
Ich bin ausgezeichnet worden in der Rubrik Immigrantenlyrik. Man kann das vielleicht verstehen als Lob der Dichter, die in der Jury saßen. 

Fühlst Du Dich als Immigrant?

Grundsätzlich nicht.  Das Leben in Russland erscheint mir genauso wenig fremd wie die Menschen. So ist es auch hier. Unter dem Strich sind die Leute sich sehr ähnlich.

Worum geht es in den Gedichten, für die du ausgezeichnet wurdest?

Ich wurde für die Auswahl von neun Gedichten prämiert. Ein Text ist meiner Oma gewidmet, aber es geht darin um Sprache an sich. In einem anderen um die deutsche. Zwei handeln von Bewegung, in einem fährt das lyrische Ich Zug.
Die Jury hat wohl etwas anderes aus den Gedichten gelesen, als ich sagen wollte. Der Text führt ein eigenes Dasein. Davon lebt er. Wenn er nur eine Deutung zulässt, würde er auch nicht von neuen Generationen gelesen.

Möchtest Du, dass Deine Texte weiterleben?

Das hängt nicht nur von mir ab. Wenn er z.B. nicht gedruckt wird oder ihn keiner lesen kann, lebt er auch nicht weiter.
Metaphorisch gesagt: Es ist ein Versuch, die Zeit einzufangen, und eine kleine Sterben. Ist er fertigt, vergeht eine Zeit, in der der Text versteinert wie die Lava nach dem Ausbruch eines Vulkans. Mag sein, dass Leute dann dieses Land besiedeln.
Mir macht Schreiben Spaß und schafft Zufriedenheit. Sprache an sich hilft mir, mich selbst zu verstehen, oder das, was eigentlich passiert.

Der Weg zum Künstler beginnt oft mit Nachahmung.

Ich hatte Phasen, in denen ich Majakowski und Jessenin gemocht und viel gelesen habe. Gerade beschäftige ich mich mit Rilke, Brodsky, Zwetajewa und Mandelstam. Ich bin im 20. Jahrhundert angesiedelt, und gehe gerade ins 19. Jahrhundert.
Mich interessier an den Autoren die Technik und ihre Lebensphilosophie. Im Großen beschäftigt sich Literatur mit dem Menschen, in der jeweiligen Epoche. Diese Dichter hatten ihren eigenen Blick. Als ob sie nicht in ihrer Zeit gelebt und auf den Menschen von der anderen Seite eines Spiegels geschaut hätten. Das ist auch mein Blickwinkel: Im Mittelpunkt steht der Mensch.

Du stellst Deiner Gedichtsammlung „Das Wesen“ einen Vers von Ossip Mandelstamm voran, den Du übersetzt hast: „Führe mich in die Nacht zum Strom Jenissej, / Wo die Kiefer den Stern berührt, / Denn ich bin weder Wolf noch von dessen / Blut, und töten kann mich ein gleiches Wesen nur.“

Dieser Text hat etwas mit mir zu tun. Ganz einfach zunächst: Es geht auch um den Jenissej, wo ich herkomme. Mandelstamm war nie dort. Er ist durchs Land gefahren nach Wladiwostok, wo er gestorben ist, nachdem er verurteilt worden war – ein bisschen war es eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Ich finde dieses Gedicht sehr bezeichnend für Mandelstams Haltung zur Epoche, in der er gelebt hat. Das lyrische Ich verneint sie und drückt aus, dass es nicht nach ihren Gesetzen leben will. Hinter den Zeilen steht das Sprichwort: Wenn man mit den Wölfen zusammenlebt, muss man auch wie ein Wolf sein.

Du hast in Deutschland Politikwissenschaft studiert?

Das waren Jugendträume. Ich habe mir das anders vorgestellt und dachte, dass man durch die Politik in der Gesellschaft etwas verändern könnte. Nach etwa drei Jahren habe ich verstanden, dass das falsch ist. Aber ich habe mein Studium trotzdem beendet.
Heute denke ich: Wenn man im Zusammenleben etwas verändern will, geht das auf anderen Wegen. Ich will im Moment ganz einfach leben und leben lassen, keine große Karriere machen und auch niemanden beeinflussen.

„banal ist jede Macht, totalitär ist jedes System, das sich im Kopf eines Menschen einquartiert. die angst ins leere zu fallen, wird nie eine gezähmte Maschine begreifen“, schreibst Du in Deinem „Poem des Wassers“. In Deinem Leben liegt nicht nur ein Wechsel des Landes mit verschiedenen Sprachen und Kulturen, sondern von zwei Gesellschaftssystemen. Spiegelt sich in diesen Zeilen wie in anderen Deiner Gedichte auch eine persönliche Angst, ins Leere zu fallen?


Ja. Es ist eine Todesangst, oder eine ganz existenzielle, ins Leere zu fallen. Meine oder die Existenz meiner Familie war nicht bedroht. Aber ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen, dass die Lebensverhältnisse schlechter werden.
Ich glaube, das bezeichnet eine Generation, die in diesen Jahren groß geworden ist und kurz vor der Pubertät den Umbruch erlebt hat, egal ob in West oder Ost. Es war ein Vakuum entstanden in der Gesellschaft, als man nicht mehr wusste, wo rechts und wo links ist. Diese Generation hat keine Orientierung.

Seit 1999 lebst Du in Deutschland.

Das war eigentlich ganz banal: Man lebt weiter. Man setzt sich ins Flugzeug, fliegt irgendwo hin, steigt aus und dann passiert irgendwas. Meine Mutter ist deutscher Abstammung, sogenannte Spätaussiedlerin.
Aufgegeben habe ich damit meine Kindheit, was sowieso passiert wäre. Ich vermisse die guten Menschen, meine Verwandten, Schulfreunde. Aber die gibt es dort auch nicht mehr. Zum Teil sind sie gestorben, zum Teil führen sie ein anderes Leben. Sie existieren nur in meinem Gedächtnis, nicht in Russland, sondern in dieser Zeit.

Du warst im Herbst 2013 Teilnehmer des Poesie-Festivals in Koktebel auf der Krim, das alljährlich im Haus Maximilian Woloschins stattfindet. Der russische Dichter, der Flüchtlingen und Schriftstellern verschiedener Anschauungen zu unterschiedlichen Zeiten Zuflucht gewährte, schrieb 1918 über die Parteien des Bürgerkrieges: „Ich aber stehe einsam zwischen ihnen / Im Rauch der tosenden Flammen, / Und bete mit allen meinen Kräften / für diese und die anderen“.

Woloschin ist ein Beispiel, wie man sein Leben gestalten oder zu anderen und sich selbst stehen kann. Dabei denke ich auch an die Situation auf der Krim. Das Festival hat letztes Jahr in der Ukraine stattgefunden, dieses Jahr in Russland. Am selben Ort, im selben Haus, in einem anderen Land.
Das Zitat spiegelt mein innerliches Befinden wieder. Ich wäre nicht für die Roten oder für die Weißen gewesen, ich bin jetzt nicht für die Russen oder für die Ukrainer.
Bei diesem Festival geht es nicht um politische Auseinandersetzungen, sondern um Literatur und die Tradition, die dahinter steht. Woloschin hat etwas gegründet, was in Russland kein zweites Mal existiert: Er baute ein Haus, in dem er seine Freunde aufgenommen hat. Nach seinem Tod hat seine Frau darauf aufgepasst und es wurde dem Staat geschenkt. Daraus entstand ein Schriftstellerhaus. Zu Sowjetzeiten gab es dort ein Sanatorium, in dem Literaten Urlaub gemacht haben.
Durch die ganzen Umbrüche des 20. Jahrhunderts ist das bestehen geblieben. Ich glaube nicht, dass  Putin, Poroschenko oder sonst jemand das kaputt machen kann.

Du lebst und arbeitest zweisprachig.

Ich schreibe meistens auf Russisch. Selbst wenn mir die Texte auf Deutsch einfallen, um die Schizophrenie im Kopf zu vermeiden. Aber selbst dabei hilft mir die deutsche Sprache, wenn ich auf Russisch nicht weiter komme. Ich überlege immer gleich, wie etwas auf Deutsch klingen würde.

Einige Deiner Gedichte hast Du verfilmt?

Dahinter stehen zwei Absichten. Zum einen möchte ich den Text an das Publikum bringen. Zum anderen ist der Gedanke aus Lesungen entstanden. Wenn eine Veranstaltung über eine Stunde lang ist, werden die Zuhörer müde. Da wir nicht immer Musikpausen einbauen können, zeigen wir dann Videopoesie.
Außerdem reizt es mich, Videos zu drehen. Ich versuche das zwar nicht, theoretisch zu untermauern, aber herauszufinden, wie es funktioniert. Es ist eine gewisse Interpretation des Textes.

Du übersetzt Gedichte aus dem Russischen ins Deutsche?

Danach gibt es eine Nachfrage, auch wenn sie sehr klein ist, damit russische moderne Poesie bei deutschen Lesern ankommt. Derzeit ist ein Buch in Planung mit Übersetzungen von Jegor Letow. Es wird im Hochroth-Verlag erscheinen, wenn ich die Erlaubnis der Urheber besitze.

Und wo siehst Du Dich in zehn Jahren?

Auf einer Insel im Mittelmeer. Da kann ich an der Küste sitzen auf einem Stein und den Horizont anschauen.

Interview: Saskia Wieck

(Das Interview entstand mit freundlicher Unterstützung der Zeitung „Leipzigs Neue“. www.leipzigs-neue.de)