Sergej Tenjatnikow besitzt die Fähigkeit, auch ohne ein formales Korsett pointiert und verdichtet zu schreiben. Lyrik auf hohem Niveau liest man in seinem Band “Plutarchs Kopf”. 

Zum Buch „Plutarchs Kopf“ von Sergej Tenjatnikow

Eine Rezension von Max Schatz


2019 legte der russlanddeutsche Dichter Sergej Tenjatnikow (*1981) seinen zweiten Gedichtband vor. Der erste mit dem originellen Titel „Aus deinem Auge schlüpft der Kuckuck“ erschien 2017 im Lychatz-Verlag.

Mit großer Neugier führte ich mir das Werk meines Altersgenossen zu Gemüte. Mit meiner Präferenz für den in der deutschsprachigen Dichtung längst unmodischen Reim musste ich als Erstes bald feststellen, dass man Reime auch in „Plutarchs Kopf“ vergeblich sucht. Immerhin geht der Autor nicht so weit, ganz modern auch auf alle Satzzeichen zu verzichten, und das Recht auf Großschreibung lässt er zwar nicht dem Satzanfang, aber den Substantiven. Wer sich schon einmal mit den Stilmitteln der Lyrik auseinandergesetzt hat, weiß aber natürlich, wozu der Verzicht auf Struktur ganz geschickt dient: Das Verständnis des Textes wird erschwert, gleichzeitig der Interpretationsspielraum erweitert, der Leser verweilt länger an den wichtigen Stellen, dadurch wird automatisch sein Nachdenken über den Sinn eines Gedichts angekurbelt.

Diese Fähigkeit moderner Dichter, auch ohne ein formales Korsett pointiert und verdichtet zu schreiben, ist einfach bewundernswert. Wer glaubt, dass man hierbei Gefahr läuft, in Beliebigkeit auszuufern, hat nur teilweise Recht. Denn genau das macht ein gutes formloses Gedicht aus, wenn so etwas dem Autor nicht passiert, sondern er alles passend und wohldosiert, zündend und effektvoll hinbekommt – was eine echte Kunst ist. Und weil das Tenjatnikow in seinem Gedichtband mit einer durchgehenden Leichtigkeit gelingt, sind seine Gedichte beim Lesen ein Genuss. Diese Gedichte brauchen gar keinen Reim, sofort erkennbaren Rhythmus oder sonstige Zierde. Sie brauchen nur sie selbst zu sein.

Das Buch eröffnet ein Vorwort von Wjatscheslaw Kuprijanow, einem Koryphäen der Poesie und Wegbereiter des russischen vers libre. Es wird also gleich am Anfang von hoher Stelle Anerkennung der Dichtkunst Sergej Tenjatnikows gezollt, und das Buch erfüllt bei weiterem Lesen die entstandenen Erwartungen durchweg. Vielleicht ist der Gedankenflug des Dichters nur nicht für jeden zu erschließen, man muss sich ebenso fragen: Wer liest heutzutage trotz der Popularität von Poetry-Slams, auch unter Jüngeren, Gedichtbände? Ein einzelnes Gedicht vielleicht irgendwo im Internet, aber gleich eine ganze Sammlung? Und auch unter Lyriklesern gibt es solche mit einem klar definierten Geschmack, bei dem zum Beispiel alles eben gut verständlich, leicht zugänglich serviert werden sollte.

Wir kommen zu dem Schluss, dass die allermeisten zeitgenössischen Lyrikbände Bücher für einen wohl eher überschaubaren Kreis von „Feinschmeckern“ sind. Aber als ein solches bedient „Plutarchs Kopf“ diese bestens!

Aber nun lassen wir den Dichter in Form einiger Zitate aus seinen Werken sprechen:


„In der Silvesternacht“:

wohin gingen wir und was haben wir noch übrig?

weder eine Kirche noch ein Dorf. 

weder den Glauben noch die Erde.

wäre es nicht besser, 

einen anderen Glauben anzunehmen, 

und die Erde auszuweiden 

und daraus eine Pastete zu machen?


Thematisch ranken sich viele Gedichte um das lyrische Bild der Erde (der Name des antiken griechischen Schriftstellers Plutarch im Buchtitel assoziiert mit „Pluton“ – dem mythologischen Totenreich in der Erde), wie auch in „Meine Deutschen“: meine Deutschen … / verloren Augen, Substantive, Gräber, / küssten die Erde wieder und wieder … oder in „Minendetektor“: … der Minendetektor piept vom verrosteten Metall, / als ob die ganze Erde von jenseitigen Dingen knattert …

Die Erde als Symbol des darein vergossenen Blutes, des Leids, des Todes – aber auch der Erlösung nach dem Tod durch die ewige Ruhe –, der Sicherheit und Beständigkeit („Landschaft da draußen“). Wie ein roter Faden durch die russlanddeutsche Geschichte verknüpft sich mit der Erde das Schicksal der Russlanddeutschen, die immer wieder neue Erde bewohnten, diese Erde bestellten und auch liebten – gab sie ihnen doch alles und half zu überleben – und die Beständigkeit, eine Heimat, suchten.


Mit einem ähnlichen Thema befasst sich „Ein Wort gleicht einer Skizze“:

ich bin der Urenkel jener, 

die als ein Wald gewachsen sind. 

in diesem Wald bin ich bloß 

ein Teenager, der einen Baum schüttelt.


Sehr schöne Stellen liest man im Langgedicht „Im Dunkeln“:

und der Schatz des Brunnens, 

und der Stein des Hechtes, und der Teer der Mücke, 

und das Fleisch des Feuerholzes waren 

freimütig zu mir. und wie ein Tagebuch 

las ich meinen Völkerstamm.


Der luxuriöse Frieden („Im Dunkeln“) ist ein Beispiel für eine gelungene starke Verdichtung, hier des pazifistischen Plädoyers des Buches: Der Autor kann keine Kriege mehr sehen, er betrachtet den Frieden schon als etwas sehr Seltenes, prangert zugleich an, dass mancher wohl meinen würde, der Frieden, weil es nun mal so ist, stehe nicht jedem Menschen auf dieser leidgeprüften Erde zu. Dabei ist der Frieden doch ein universelles Gut!

Es gibt auch eine Reihe von kürzeren und knackigen Gedichten, die ein bestimmtes Bild oder einen Vergleich in seiner lyrischen Vollendung darstellen: z. B. „Punkt“ oder „Mäuse im Meer“, persönlich das Lieblingsgedicht des Rezensenten; eine Atmosphäre von Sex, Punsch und Putsch (seit Wolken die Sonne stürzten) in „Prager Frühling“. Und eines der besten Gedichte ist „Aquarium“. Es handelt von einem verqueren Verhältnis zwischen Autor und Leser: Der Autor ruft nach dem Leser, aber jener reagiert nicht; frustriert, wird der Autor schon unhöflich – der Leser zieht sich erst recht zurück (aber was soll der Autor schon tun?). Das Stück endet düster mit Zerstörung und Versinnlosung: das Aquarium zerbricht, / und meine Worte den Fischen gleich / ersticken in seinen Händen.

Der Autor hat für den Leser etwas erschaffen, doch weil es niemandem von Wert erscheint, verliert es auch letztlich seinen Wert, den es trotzdem hatte. Das Gedicht beschreibt treffend die Situation vieler Autoren, die sich redlich abmühen, Leser zu gewinnen, doch unbeachtet bleiben.

Der ziemlich lange und spannende Zyklus „Phantome“ zum Schluss des Bands erzählt interessante Geschichten mit gefühlt Hunderten von Seiten Inhalt und einer Flut von prägnanten Bildern und erlesenen lyrischen Ideen, die von großem Erfindungsreichtum des Dichters zeugen, wie beispielsweise die Geschichte in „VIII. Zehn Minuten älter“, wo es dann heißt: so drehte der Schlüssel mein Leben um.


Abschließend noch zwei Verse aus „Eine Skizze im Speisewagen“:

alles, was in diesem Zugabteil noch geblieben ist –

ein Schluck Bier im Glas


Vom Buch „Plutarchs Kopf“ bleibt am Ende der Lektüre dagegen definitiv viel – an Gedankennahrung, Kopfkino und vor allem dem Gefühl, Lyrik von sehr hohem Niveau gelesen zu haben.


Sergej Tenjatnikow, „Plutarchs Kopf“, ostbooks Verlag 2019, 100 Seiten, ISBN 9783947270088



Kerstin Fischer über Sergej Tenjatnikows „Aus deinem Auge schlüpft der Kuckuck“ 

Rosinante Literaturblog vom 19. Dezember 2017

 

„die Welt, schwarz-weiß geworden, / liegt in Schneebergen der Poesie“ und damit in den wunderbaren russischen Gedichten von Sergej Tenjatnikow, die der Lyriker zudem in diesem zweisprachigen Band ins Deutsche übertragen hat.

Die Beziehung des Menschen zwischen seiner inneren Umgebung und dem Inneren seiner äußeren Umgebung nimmt darin breite Räume ein. Sie sind wohlgestaltet, in klaren Farben gehalten, formschön und mit berückend originellem Mobiliar versehen. „die Glühbirne schaut in die Augen, / als ob sie ahnt, dass in mir ihre Schwester brennt,“ Dazu im Kontrast stehen Prosagedichte mit stark narrativem Charakter, die ihren Stoff auch aus der Antike holen, ihn glänzend inszenieren und neu erfinden. So in dem Gedicht „Ross des Imperators“, in dem in einer Art Chronistenpflicht beschrieben wird, wie ein Pferd das „erste Imperium Rossum in der Geschichte“ begründet.

Wahre Meisterschaft der Verdichtung zeigt der Lyriker dann in dem elfzeiligen Gedicht „Immigrant“. 40 000 Jahre Menschheitsgeschichte finden sich darin in grandioser Weise zusammengefasst.

Dann wieder streut die Wahrnehmung, – auch das eine Kunst – wenn sie sich auf Momente und Details bezieht. Die einzelnen Zeilen scheinen nichts miteinander zu tun haben zu wollen, stehen da wie Gegner, verkörpern die Unruhe, das Ablenken vom Eigentlichen in eindringlichen lyrischen Bewusstseinsströmen.

Was ist das Eigentliche in den Gedichten von Tenjatnikow, die „Vergesslichkeit der Hand, / die ein geheimes Zeichen in der Luft beschreibt …  “ oder „das menschliche Gesicht“, das „jedoch fürs Gebet geschaffen“ ist? Oder gar die Physiognomie der Leere? „gewissermaßen schreibt jeder Zug / seinen eigenen Roman. / und wenn das lyrische Ich ein Tut-Tut hört, / bleibt Es panisch am Fenster kleben – / in der Angst, dass seine Reise / in irgendeinem Loch endet,“.

Alles in allem liegen die Gedichte in einem Schoß, der verhältnismäßig warm ist, und der auch Humor duldet, da, wo er passt, ohne zu verflachen, was ein Höchstmaß an Taktgefühl vorrausetzt. „lass uns auf diesem Sofa am Meer heimisch werden, / welches der in uns verliebte Gott versalzen hat.“ Tenjatnikow hat dieses Taktgefühl, das seine Anwendung auch in immer wieder verblüffenden Pointen findet. In dem Gedicht „Nachtleben“ trifft das lyrische Ich nach seinem Tod im Himmel auf seinen Vater, der sich nach den Menschen erkundigt. Zum Ende hin heißt es: „Ich machte es mir auf der Wolke bequem, nahm ein / Mikroskop und betrachtete die Erde: Schmutzige, bärtige / Männer rannten den anderen schmutzigen, bärtigen Männern / hinterher. Einige fielen um und blieben auf der Erde liegen.“

Damit ist alles gesagt.

 

Übersetzung der Rezension von Sergej Birjukov zum Gedichtband von Sergej Tenjatnikow „Aus deinem Auge schlüpft der Kuckuck“, erschienen in der Literaturzeitschrift „Deti Ra“, Moskau, Nr. 6, 2017

 

Notabene: Sergej Birjukovs Bücherschau

 

Sergej Tenjatnikow. Aus deinem Auge schlüpft der Kuckuck

Сергей Тенятников, «Из твоего глаза вылупляется кукушка»

Gedichte Russisch/Deutsch. Leipzig: Lychatz Verlag, 2017

 

Sergej Tenjatnikow stammt aus Krasnojarsk. Mit achtzehn Jahren zog er nach Deutschland, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Russistik an der Universität Leipzig, entpuppte sich aber als Dichter. Beinahe hätte ich „leider“ geschrieben ... Denn, was es bedeutet ein Dichter in existenzieller Hinsicht zu sein, ... na ja, ihr wisst schon ... Und was es bedeutet ein Held zu sein? Wie zum Beispiel Prometheus aus dem Gedicht Held, welches mit dem Vers endet:

 

o armer Gott Prometheus,

was wurde aus deiner Heldentat ...

du bist nur eine Steckdose

an der Wohnungswand,

die mir Licht in den dunklen Stunden schenkt.

 

Oder was es bedeutet ein Zug zu sein, der „dem Raum die Zeit raubt“...

Oder eine Eiche, die „mit dem Kopf in die Erde hineinwuchs“ ...

Oder eine Schnecke, die die Hauptprotagonistin eines Kriminalfalls ist ...

 

Oder ...

 

Die Liste wird lang ... Der Dichter führt in dem Buch eine beeindruckende Bewährungsprobe der Vereinbarkeit des menschlichen Gefühlgedankens mit der Natur, der Geschichte, der dinglichen Welt durch. Dabei macht er das in zwei Sprachen und mit Hilfe verschiedener poetischer Techniken. Wie der bekannte zweisprachige Dichter und Übersetzer Waldemar Weber im Nachwort zum Gedichtband richtig anmerkt, treffen in Tenjatnikows Werk „russische Avantgarde, Expressionismus und insbesondere die Poetik des Surrealismus aufeinander, die über logische Brücken springt und Gegenstände und Gedanken eigensinnig verbindet.“ Das erkennt man gleich am Buchtitel. Die Buchseiten wirken wie ein seltsamer Spiegel, in welchem sich Wörter einer Sprache in den Wörtern der anderen Sprache auf eigentümliche Art und Weise widerspiegeln. Kyrillische Buchstaben spiegeln sich in lateinischen und umgekehrt. Wörter prallen aufeinander, werden zu Texten und lassen eine neue unbekannte Bedeutung aufleuchten, die nicht entstanden wäre, wenn die Gedichte in einer Sprache gedruckt wären.

 

тень, отброшенная на страницу,

читается как лень.

 

der auf Papier geworfene Schatten

liest sich wie ein Schaden.

 

Das ist keine Übersetzung. Hier gibt es wahrlich eine parallele Bewegung in zwei Sprachen. Und durch das unvermeidliche Einanderschneiden dieser parallelen Geraden öffnet sich ein Tor in eine neue Dimension.

 

 

Russische Originalfassung abrufbar unter http://detira.ru/arhiv/nomer.php?id_pub=19842 

 

 

 

Erstaunen war alles, was mir übrig blieb

Volker Strebel über Gelb Schulpjakows "Anfang der Religion"    

        

Erstaunen war alles, was mir übrig blieb

In einem überzeugenden Einstand belegen die Verse des russischen Dichters Gleb Schulpjakow Aufrichtigkeit und Temperament
Hamburg


 

Cultureglobe vom 23. Juni 2010 

 

https://cultureglobe.de/sergej-tenjatnikow/

 

Sergej Tenjatnikow – ein Autor unserer Zeit

Man sagt, Kunst sei Ausdruck ihrer Zeit – auf die Gedichte Sergej Tenjatnikows zutrifft dies zu; zumindest ist es nicht leicht einen Lyriker in der Vergangenheit ausfindig zu machen, der formal und inhaltlich vergleichbare Gedichte geschrieben hat. Sergej Tenjatnikows Lyrik kann also nicht nur bezogen auf ihre Entstehungszeit als zeitgenössisch bezeichnet werden. Wer ihn kennt, weiß, dass die Suche nach neuen poetischen Ausdrucksmitteln, das Neuerschaffen und nicht das Nachahmen auch ein Anspruch ist, den der Autor an sich selbst erhebt. Das vorrangige poetische Instrument Sergej Tenjatnikows ist die Metapher, seine zahlreichen bildlichen Vergleiche und Gleichnisse, für deren Verständnis nicht selten Hintergrundwissen und Kenntnisse von Nöten sind. Die Form seiner Lyrik ist modern, weil sie auf herkömmlichen Rhythmus, Versmaß und Reim verzichtet; aber die vergleichsweise schlichte sprachliche Hülle seiner Gedichte ist um so reichhaltiger an Gedanken und Inhalt.

Man kann sich fragen, ob in den Gedichten von Sergej Tenjatnikow nicht auch ein großes Maß Fatalismus mitschwingt, wie in seinem „Prager Frühling.“ Sicherlich ist die Wahrnehmung der Ohnmacht gegenüber dem eigenen Schicksal ein prägendes Element der Menschen des vergangenen Jahrhunderts; es scheint einerlei welche Macht herrscht und ihre Herrschaft mit Lügen rechtfertigt, dem einzelnen Menschen ging und geht es dort wie hier scheinbar weder besser noch schlechter. Dennoch ist der Prager Frühling ein historisches Ereignis, dessen Bewertung stark von politischen Standpunkten bestimmt wird; für die einen ist er ein diktatorisch unterdrückter Versuch der Durchsetzung einer freiheitlich-demokratischen politischen Kultur; für die anderen eine historisch notwendige Verteidigung einer sozial gerechten Gesellschaft gegen den Versuch einer Konterrevolution, die unter der demagogischen Verkleidung von Freiheit und Demokratie daher kam. Das lyrische Ich hingegen hätte während des Prager Frühlings Nutten abgeschleppt und man fragt sich doch, ob ihm der politische Streit gleichgültig ist und der Gang der Geschichte unabänderlich. Darf man dem zustimmen? Und welche Alternativen bietet das Leben sonst? Andererseits wäre die Lyrik Sergej Tenjatnikows nicht derart zeitgemäß, wenn sie nicht derart widersprüchlich und vom Standpunkt des unparteiischen kritischen Intellektuellen verfasst wäre. In ihr drückt sich meiner Meinung nach die Gefühls- und Gedankenwelt des denkenden Individuums aus, das sich in einer Übergangszeit darüber bewusst wird, dass die Mächte, dem es in Vergangenheit und Gegenwart gegenüber stand und steht, sich nicht dadurch voneinander unterscheiden, wer die Wahrheit gesagt hat und sagt, sonder wer mehr oder weniger gelogen hat und lügt; und dem manchmal wie dem Revolutionär im Gedicht „Linke Narbe“ kein anderer Trost bleibt als ein Schluck aus der Flasche – Was wäre zeitgemäßer?

Die subjektive Stellung des kritischen Intellektuellen, die der Autor in seinen Gedichten einnimmt, ist nicht zufällig gewählt; sie spiegelt naturgemäß die Stellung wieder, in der er sich selber befindet. Sergej Tenjatnikow wurde 1981 in der sibirischen Stadt Krasnojarsk geboren und lebt seit 1999 in Deutschland. An der Universität Leipzig studiert er Politikwissenschaft und Russisch. Die hier in deutscher Sprache vorliegenden Gedichte wurden alle in russischer Sprache verfasst und selbstständig vom Autor ins Deutsche übertragen. Sein Interesse für gesellschaftliche und politische Themen drückt sich auch in seinen Gedichten aus, mehr noch scheint die Wahl seiner Themen herzurühren von der Zugehörigkeit des Autors zu einer Generation, die zwischen den System aufgewachsen ist. Das Erleben des Scheiterns der kommunistischen Idee in seinem Heimatland wirkten auf diese Generation genauso wie die Erfahrung, dass die freiheitlichen Ideale westlicher Demokratien als Argumente im Kampf der Systeme tauglich waren, soziale und politische Gerechtigkeit aber ebenso wenig herzustellen vermögen. Der Sergej Tenjatnikow selbst wandelt in der losen Zeit, von der er sich geboren fühlt wie ein misslungener Witz. Die „Sprache der Zeit“ ist auch 20 Jahre nach dem versprochenen „Ende der Geschichte“ im Begriff, zu verrohen. Denn es scheint als wandere der Duce erneut durch Europa und der überflüssige Dante bleibt ungehört hinter dem Jubelschrein in den modern Gladiatorenkämpfe. Es ist zu wünschen, dass die Gedichte Sergej Tenjatnikows gehört werden; überflüssig sind sie auf keinen Fall.

 

Von Roman Stelzig

 

 



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